Gerhard Schimpf im Interview mit Jonas Bedford-Strohm
Jonas Bedford-Strohm ist Mitarbeiter am Lehrstuhl Medienethik der Hochschule für Philosophie (München) und am Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft (zem::dg). Er erforscht die ethischen Implikationen technologischer Disruptionen und untersucht den Einfluss des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit auf die Institutionen der liberalen Demokratie. Jonas Bedford-Strohm ist Journalist, Wissenschaftler, Gründer und Berater mit Erfahrung in Medienhäusern, öffentlichen Einrichtungen und dem Non-Profit-Sektor. Er arbeitet als Produktmanager für Sprachassistenten-Projekte im Innovationsmanagement des Bayerischen Rundfunks und koordiniert Digitalprojekte für die Informationsdirektion.
Gerhard Schimpf hat ihn zum Thema digitale Transformation befragt.
Gerhard Schimpf (GS): Lieber Herr Bedford-Strohm, vielen Dank, dass Sie sich für ein Interview über das Themengebiet unseres Symposiums zur Verfügung gestellt haben. Einige Leser kennen Sie vielleicht noch nicht. Könnten Sie sich bitte vorstellen und uns Einblick in Ihre gegenwärtige Arbeit geben?
Jonas Bedford-Strohm (JBS):
Ich teile meine Zeit zwischen dem Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft (zem::dg) an der Hochschule für Philosophie in München und dem Bayerischen Rundfunk. Das ergänzt sich ideal, denn Medienethik und digitale Praxis sind sowohl für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, als auch das Forschungszentrum im Kern der gegenwärtigen Herausforderungen.
Als altehrwürdige Institution der Nachkriegszeit haben die öffentlich-rechtlichen Medienhäuser die wichtige Aufgabe, ihren Gründungszweck neu auszufüllen und digital umzusetzen. Das ist ein Mammutprojekt, an dem ich in den Innovationseinheiten der Intendanz und der Informationsdirektion mitarbeiten darf. Ich habe unser Team für Sprachassistenten wie Amazon Alexa und Google Assistant mit aufgebaut und die ersten Skills umgesetzt. Jetzt widme ich mich der Frage, wie künstliche Intelligenz die aktuellen Programme stärken kann und an welchen Herausforderungen wir in diesem Feld nicht scheitern dürfen.
Die digitale Medienentwicklung im zem::dg in ihren größeren Rahmen einzuordnen und die Verknüpfungen in die politische Philosophie, die Sozialwissenschaften, die Medien- und Kommunikationsforschung, sowie die angewandte Ethik zu studieren, gibt mir das theoretische Rüstzeug dafür, nicht blind den Trends hinterherzulaufen, sondern die Herausforderung an ihrer Wurzel zu untersuchen und echt tragfähige Lösungen zu finden. So passen Theorie und Praxis ideal zusammen.
GS: Welche Beziehung haben Sie zur Informatik und welchen Auswirkungen der zurzeit sichtbaren digitalen Transformation sollten wir die größte Aufmerksamkeit widmen?
JBS: Den Großteil meines Lebens habe ich – zumindest in professioneller Hinsicht – fernab der Informatik verbracht. Zwar habe ich mit Freunden eigene Computer zusammengeschraubt und LAN-Partys veranstaltet, aber zur Informatik kam ich vor allem über die sozialen Fragen: Wie verändern soziale Medien die öffentliche Verhandlung von wichtigen gesellschaftlichen Fragen? Wie müssen Medien gestaltet sein, dass sie wirklich ansprechend sind und von Menschen in den verschiedensten Nutzungsszenarien gern genutzt werden? Wie verändern digitale Technologien unser Selbstbild und die Kommunikation untereinander?
Für mich wurde Informatik also deswegen so wichtig, weil Informatik unser soziales Leben prägt und verändert. Anders als viele in den Generationen vor mir hat mich das nicht abgeschreckt, sondern begeistert, weil es jungen Menschen die Chance gibt, die Gesellschaft der Zukunft mitzugestalten. Dementsprechend sind für mich die technischen Fragen nur eine andere Formulierung für soziale Fragen: Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben und wie sind unsere Institutionen, Kommunikationskanäle, Arbeitsumgebungen und Tagesabläufe gestaltet?
Neben der Frage, wie wir künstliche Intelligenz als Ergänzung zur menschlichen Intelligenz einsetzen wollen, steht für mich derzeit die Frage im Vordergrund, wie die digitale Ökonomie aussieht und welchen sozialen Einfluss sie durch den Netzwerkeffekt der Hauptprodukte von Facebook und Google auf liberale Demokratien haben. Da ist einiges im Wandel und braucht Lösungen, die im Sinne des Gemeinwohls dieser liberalen Demokratien sind und sie nicht unterwandern.
GS: Wie beeinflussen diese Überlegungen Ihre Arbeit und auf welche Weise wirken Sie selbst an der digitalen Transformation mit?
JBS: Für mich ist die spannende Herausforderung im BR, dass wir eine in Radio und Fernsehen leistungsfähige Institution so umbauen müssen, dass die Talente und Erfahrungen aus diesen Technologien bestmöglich auch im Digitalen zur Geltung kommen. Das ist eine organisatorische und strukturelle Herausforderung einerseits, um sicherzustellen, dass wir Expertise in den neuen Feldern entwickeln, ohne dabei Radio und Fernsehen zu vernachlässigen. In Zeiten real sinkender Budgets der Öffentlich-Rechtlichen ist das eine echte Herausforderung.
Als junger Kollege, der Medien ausschließlich digital konsumiert, ist es für mich eine große Chance von den Erfahrenen in der Organisation zu lernen. Denn so verstehe ich gelungene Digitalisierung: als digitalen Generationenvertrag, in dem die Jungen ihre digitale Versiertheit einbringen und die Erfahrenen ihre journalistische Kompetenz aus vielen Jahren erfolgreicher Medienarbeit einbringen. Ich habe die Erfahrung gemacht: Projekte mit intergenerationellen Teams sind die erfolgreichsten.
Was die Drittplattformen angeht, sind wir ja in Europa und den USA in einem regen gesellschaftlichen Diskurs darüber, in welche Abhängigkeiten sich Medienhäuser begeben sollten und in welche nicht. Wir diskutieren auch Strategien gegen die viel diskutierten „Fake News“ und Fälle von „Hate Speech“ – dass wir die englischen Begriffe dafür nutzen, zeigt meines Erachtens, dass wir uns noch von Entwicklungen treiben lassen, die an anderer Stelle in Gang kommen. Dass wir an dieser Stelle mehr das Ruder in die Hand nehmen und eine eigene konstruktive Vision der gesellschaftsfördernden Digitalität entwickeln – das ist für mich die große Herausforderung der nächsten Jahrzehnte. Eine spannende Zeit also, um in die Medienbranche, zumal die öffentlich-rechtliche, zu starten.
GS: Welche Chancen zu einer positiven Veränderung und Verbesserung der Lebensqualität in unserer Gesellschaft verbinden Sie mit der digitalen Transformation?
JBS: Wenn wir das Feld soziale Medien ansehen: Noch nie konnten so viele von den Institutionen ausgeschlossene Menschen sich so unkompliziert zusammenschließen und sich Gehör verschaffen. Die alten Institutionen waren nämlich keineswegs ideale Garanten der liberalen Demokratie. Weiße, wohlhabende, heterosexuelle Männer aus gutem Hause mit moderat konservativen Einstellungen waren und sind größtenteils die Elite dieser Institutionen – viel zu lang haben diese Institutionen aber nicht eingelöst, wovon sie sprachen. Phänomene wie der #MeToo-Hashtag erzwingen lang überfällige Diskussionen, die in den alten Institutionen nicht hoch im Kurs standen.
Hier sehe ich auch Chancen für künstliche Intelligenz: Medien könnten in Zukunft mithilfe von Technologie mehr Inhalte für Menschen machen, die nicht genug Profit für das Gehalt eines Journalisten abwerfen würden. Das sehe ich zum Beispiel in Norwegen, wo eine Nachrichtenagentur ein Pilotprojekt gestartet hat, um automatisiert Texte aus dem Neu-Norwegischen in die traditionelle Schriftsprache zu übersetzen. So kann Technologie genutzt werden, um Tradition zu pflegen und nicht zu zerstören. Ein Ähnliches Beispiel ist die Berichterstattung im Sport: Wo bisher vor allem der Spitzensport und der finanzstarke Profi-Fußball journalistische Ressourcen bekam, könnten in Zukunft auch regionale Ligen und Wettbewerbe mehr Aufmerksamkeit bekommen, in dem zum Beispiel eine künstliche Intelligenz die Spieldaten aus der Kreisliga in Text formuliert und als lokalen Inhalt für Interessierte zur Verfügung stellt. So kann Technologie mehr Partizipation möglich machen.
Allerdings sind solche technischen Entwicklungen auch nicht billig. Als Sparmethode taugen sie nicht so recht. Im Gegenteil: Zunächst sind große Investitionen notwendig. Und hier ist es wichtig, dass Menschen Qualitätsjournalismus schätzen und auch schlicht und einfach Geld dafür bezahlen. Im öffentlich-rechtlichen System ist das über den Rundfunkbeitrag gelöst, aber im privat finanzierten Medienbereich gehen die Printauflagen zurück und die Werbeerlöse im Digitalen können das nur in wenigen Fällen wirklich auffangen. Hier sehe ich die ganze Gesellschaft in der Pflicht, dass die Chancen des Digitalen im Medienbereich nicht ins Negative umschlagen. Wir kriegen am Ende alle die Medienlandschaft, die wir bezahlen. Qualität kostet.
GS: Auf der Negativseite und besonders im Kontext Mensch-Sein mit Algorithmen, welche Risiken sehen Sie für das Mensch-Sein?
JBS: Die Schattenseite davon, dass heutzutage jeder sein eigenes Medienhaus sein kann, ist nicht nur, dass der Qualitätsjournalismus Umsatzeinbußen hinzunehmen hatte und deswegen die Versorgung in der Fläche, vor allem im Lokalen, schlechter geworden ist. Eine Schattenseite ist auch, dass diejenigen, die die Institutionen der Demokratie nicht reformieren, sondern abschaffen möchten, genauso mächtige Möglichkeiten bekommen wie diejenigen, die für die Demokratie kämpfen und sich am Gemeinwohl beteiligen. Hier müssen die öffentlich-rechtlichen Institutionen, denen der Volkssouverän über den Rundfunkstaatsvertrag die freiheitlich-demokratischen Grundordnung in die DNA geschrieben hat, neue Wege finden, um einen echten gesellschaftlichen Diskurs zu fördern. Das Ziel muss sein, dass sich diejenigen, die sich rechts oder links des Spektrums ausgeschlossen fühlen, wieder konstruktiv an gemeinsamen Lösungen für die Zukunft beteiligen.
Man muss aber realistischerweise sagen: Wir werden nicht selektiv nur das Schlechte ausrotten können. Mein Verdacht ist, dass das Gute und das Schlechte bei den sozialen Medien aus derselben Quelle kommt. Wenn zum Beispiel ein afroamerikanisches Mädchen in den USA per Facebook auf sexuelle Gewalt aufmerksam machen kann, beruht das auf der Offenheit der Plattform. Viele Zeitungen hätten früher ein solches Anliegen nicht abgedruckt. Diese Offenheit steht aber natürlich auch den Neonazis von Charlottesville zu, die das zur Hetze und Gewalt genutzt haben. Dafür werden wir soziale Strategien entwickeln müssen.
Wir als Menschheit befinden uns gerade im epischen Lernprozess einer neuen Kulturtechnik. Noch nie waren zwei Milliarden Menschen in einem einzigen Netzwerk vereint. Wir machen das alle – als Spezies – zum ersten Mal. Da wird es ohne Zweifel Exzesse geben. Ich hoffe, dass wir schnell genug lernen, um wirklich Schreckliches zu verhindern: Die russische Einflussnahme auf den amerikanischen Diskurs über Facebook und die Facebook-Hetze gegen die Rohingya in Myanmar zeigen, dass die Lage ernst ist, und die Zeit für neue Ideen genau jetzt ist.
GS: Wer trägt Ihrer Meinung nach die Verantwortung, um diese Risiken zu begrenzen?
JBS: Wir alle. Keiner von uns darf sich rausreden. Die Digitalverweigerer sind verantwortlich, weil sie sich mit der größten Herausforderung unserer Zeit nicht ernsthaft beschäftigen. Die Digitalfanatiker sind verantwortlich, weil sie keinerlei kritische Perspektive auf die Schattenseiten einnehmen können. Die Regelwütigen sind verantwortlich, weil sie kreative digitale Lösungen von der Graswurzel verhindern. Die Radikalliberalen sind verantwortlich, weil sie naiv den Selbstregulierungskräften vertrauen und zerstörerischen Praktiken keinen Einhalt gebieten. Und wir alle als Nutzerinnen und Nutzer sind verantwortlich, weil wir durch unsere Klicks die Gestaltung der digitalen Welt mitprägen und die Innovation dorthin geht, wo die Nutzerinnen und Nutzer sein wollen. Uns klarzumachen, dass diese Verantwortung real und wichtig ist, und wir alle einen Beitrag zum digitalen Gemeinwohl zu leisten haben, das sehe ich als Aufgabe von Journalismus, von öffentlichen Institutionen, aber auch von Innovations-Eliten an, die viel Aufmerksamkeit für bahnbrechende Produkte bekommen und diese Aufmerksamkeit nutzen müssen, um einen intelligenten Diskurs darüber zu fördern.
GS: Lieber Herr Bedford-Strohm, vielen Dank für diese interessanten Ausführungen. Wir freuen uns darauf Sie im September in Heidelberg zu treffen.